"...mein Lebensmotto, das mich immer wieder antreibt lautet: »Es gibt nur zwei Tage im Jahr, an denen du nichts verändern kannst. Der eine ist Gestern und der andere ist Morgen.«"
Hallo, ich heiße Jolanta. Ich bin 52 Jahre alt und ich komme aus Polen. In Deutschland bin ich seit 8 Jahren, seit 2015. Es ist eine komische Geschichte wie ich hierher kam: Ich habe einfach den Atlas geöffnet, eine Deutschlandkarte aufgeschlagen, die Augen geschlossen und mit dem Finger, wie bei einer Lotterie, „Patsch“, auf eine Stelle getippt. So bin ich nach Bielefeld gekommen. Ich war als 10-Jährige bei einem Schüleraustausch in der 4. Klasse das erste Mal in Deutschland und habe mich sofort in dieses Land verliebt. Als ich damals über die Grenze kam, fühlte ich mich wie Cinderella im Märchen.
Es war wie im Traum. Wir haben viele Geschenke, Süßigkeiten und 20 DM bekommen, mit denen ich sehr viel später erst als 18/19-Jährige auf dem Markt am Bahnhof Zoologischer Garten Waren eingekauft habe, die wir in Polen wieder verkauft haben. Damit habe ich meine Familie unterstützt. Wir waren fünf Brüder und zwei Schwestern und sehr arm.
In Polen habe ich keine Zukunft mehr für mich und meine Kinder gesehen. Auf der Flucht vor meinem gewalttätigen damaligen Ehemann musste ich schon oft in Nacht-und-Nebel-Aktionen innerhalb Polens umziehen, weil er uns immer wieder aufgespürt hat. Ich lebte in ständiger Angst, dass er uns findet. Von der Justiz habe ich leider keinen ausreichenden Schutz erfahren. Wir waren 18 Jahre verheiratet. Er war Alkoholiker und sehr aggressiv. Als ich ihm eines Tages sagte, dass ich ihn verlassen wolle, hat er mir ein Messer in den Bauch gestochen und dann das Haus verlassen. „Wenn er mich nicht haben kann, darf mich auch kein anderer haben!“ Unsere knapp 3-jährige Tochter saß daneben und spielte mit Bausteinen, sie war noch zu klein, um diese Situation bewusst zu verstehen. Aber noch heute hat sie manchmal Alpträume. Meinem damals 13-jährigen Sohn habe ich zu verdanken, dass ich noch lebe. Er hatte auf dem Weg zur Schule etwas vergessen und kam zurück nach Hause. Er fand mich und alarmierte den Notdienst. Sie haben meinen Mann damals nur 48 Stunden in Gewahrsam genommen. Nach der Operation und der Zeit im Krankenhaus wurde ich mit Polizeischutz nach Hause begleitet, um unsere Sachen zu packen und kam dann mit beiden Kindern in ein Frauenhaus in eine andere Stadt. Dort war ich nur für drei Monate, weil ich da wieder weg wollte. Ich habe sehr schnell eine Arbeit im Krankenhaus bekommen, aber es war schwer, da ich dort auf mich alleine gestellt war. Ein wenig finanzielle Unterstützung habe ich zwar noch erhalten, aber es war nicht ausreichend. Meine Tochter hat im Kindergarten gegessen und mein Sohn in der Schule. Ich selbst habe im Krankenhaus oft die Essensreste der Patienten gegessen. Es waren schwierige Zeiten. Ich habe mich vorab im Internet informiert und über Facebook Kontakt zu in Bielefeld lebenden Polen aufgenommen. Ein Arbeitskollege hat mich und meine 8-jährige Tochter mit dem Auto dorthin gefahren. Meinen Sohn habe ich später nachgeholt. Er war in einer Ausbildung zum Informatiker, die er erst mal beenden wollte. Ich hatte organisiert, dass er bei guten Freunden unterkam. Wir sind einfach losgefahren und mussten die erste Nacht im Auto schlafen, weil ich noch keine Bleibe hatte. Es war kalt und hat stark geregnet. Wir hatten Angst, weil viele Menschen unterwegs waren und ins Auto schauen konnten. Am Morgen bin ich dann schnell ins Internet und habe von meinen Kontakten auf Facebook den Rat erhalten, mich an das Deutsche Rote Kreuz und an eine Zeitarbeitsfirma zu wenden. Die Mitarbeiter in der Firma haben mich auch sehr unterstützt. Es waren teilweise auch Polen, die wussten wie es ist, mit nichts anzukommen. Am selben Tag habe ich eine Wohnung und eine Arbeit gefunden. Ich bin den Menschen, die mir so sehr geholfen haben so dankbar. Ich hatte eine kleine 1-Zimmer-Sozialwohnung für mich und meine Tochter bekommen und war sehr glücklich und dankbar, ein Dach über dem Kopf zu haben und nicht nochmal in der Kälte und im Regen übernachten zu müssen. Ich musste meine Kinder schützen. Das war mein Motor. Meine Tochter hatte einen Monat später einen Schulplatz. Sie konnte kein Deutsch und erhielt dort daher für drei Monate separaten Sprachunterricht. Sie war erst 8 Jahre alt, aber musste sehr schnell Erwachsen werden. Jetzt ist sie 17 Jahre alt und ist sehr verantwortungsvoll. Sie hat so viel geschafft. Gerade macht sie ihren Mittleren Schulabschluss und hat in den Prüfungen sehr gute Noten erhalten. Während ich selbst noch keine Ausgrenzung erfahren habe, leidet meine Tochter manchmal in der Schule unter Diskriminierung. Ich habe viele Ausbildungen und hatte viele verschiedene Jobs in Polen: Schneiderin, Näherin, Künstlerin, Bäckerin und Konditorin. Als Pflegerin und Betreuungskraft habe ich auch gearbeitet. Das alles wurde in Deutschland nicht anerkannt. Und Ich konnte anfangs kein Wort Deutsch, außer: ‚Mein Name ist Jolanta‘, aber ich hatte ein großes Wörterbuch dabei und habe mir auch viel mit Google übersetzt. Ich habe schnell festgestellt: ohne deutsche Sprache kann ich hier nicht arbeiten und darum habe ich mir gesagt: Ich muss! Ich muss, weil ich will. Also bin ich in die Sprachschule gegangen und habe sehr gute Zeugnisse bekommen. Ich war so stolz auf mich. In Bielefeld waren wir ganz alleine. Deshalb sind wir 2017 nach Berlin gezogen, weil hier schon meine Geschwister und weitere Familienmitglieder lebten. Ich dachte am Anfang, Berlin sei zu groß und ich würde es nicht mögen. Aber es gibt hier einen Park und ich habe viele Hobbies für mich entdeckt, die mich glücklich machen. Vor allem tanze ich gerne. Wenn mich etwas geärgert hat, tanze ich und bin wieder glücklich. Früher hatte ich Depressionen und große Ängste, aber ich habe Unterstützung von Psychologen bekommen. Meine Kinder sind gesund, ich bin gesund und habe ein gutes Leben. Drei meiner Jobs sind mittlerweile in Deutschland anerkannt. Jetzt möchte ich eine Ausbildung zur Ergotherapeutin machen. Das sind nochmal drei Jahre Ausbildung, aber mein Lebensmotto, das mich immer wieder antreibt lautet: „Es gibt nur zwei Tage im Jahr, an denen du nichts verändern kannst. Der eine ist Gestern und der andere ist Morgen.“ Ich habe eine sehr gute Nachbarschaft und wir halten immer zusammen. Wir leben hier sehr gemischt. Multikulti kann man sagen. Für mich gibt es keinen Unterschied, ob du aus Deutschland, oder aus Polen, aus Russland, der Ukraine, aus der Türkei oder Griechenland kommst. Egal. Für mich ist jeder Mensch erst mal wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Die Menschen beschreiben sich selbst mit ihren Handlungen. Was ich so noch nicht kannte und mich etwas wundert ist, dass man hier einen Termin ausmachen muss, wenn man seine Freunde treffen möchte.