Mein Name ist Ismail. Meine deutschen Freunde nennen mich Isi, weil es einfacher auszusprechen ist. Ich bin 1951 in Syrien in einem kleinen Dorf, in der Nähe von Damaskus, geboren. Wir waren sieben Geschwister und lebten in einem sehr schönen Dorf. Die Häuser waren typisch arabisch, ebenerdig mit einem Innenhof in der Mitte. Auf der westlichen Seite des Dorfes gab es große Ländereien mit verschiedenen Obstbäumen, vor allem aber Olivenhainen. Dort habe ich meine Kindheit verbracht.
Mit sechs Jahren brachte mich meine Mutter zum Scheich ins Dorf, der sehr streng war und uns Kindern das Rechnen und Lesen beibrachte. Wir lernten den Koran auswendig und wehe, wenn wir einen Fehler machten, da gab es Schläge mit der Rute eines Granatapfelbaumes. Das führte dazu, dass ich so gut Arabisch und Rechnen gelernt habe und nach einem Einstufungstest gleich in die zweite Klasse eingeschult wurde. Allerdings, was damals noch niemand wusste, war ich stark kurzsichtig. Ich war immer darauf angewiesen, von meinen Mitschülern abzuschreiben, was sie von der Tafel ablasen. Das Schulsystem in Syrien besteht aus drei Phasen: der Grundschule, der Mittelschule und der Sekundarschule (Oberschule). Jede Stufe endet mit einem Abschluss. Wegen meiner unerkannten Kurzsichtigkeit bin ich in der sechsten Klasse sitzengeblieben. Erst einem Lehrer in der siebten Klasse fiel es auf. Er brachte mich zu einem Arzt, der mir eine Brille verschrieb. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich wieder besser in der Schule wurde. Meine beiden älteren Schwestern und eine der jüngeren Schwestern durften die Schule nicht besuchen, so war das damals.
Ich habe mein Abitur mit sehr guten Noten bestanden und wurde daher ausgewählt, in der DDR zu studieren. Syrien hatte 1947 seine Unabhängigkeit vom französischen Kolonialismus erlangt, und die DDR wurde 1949 gegründet. Beides waren junge Staaten, die sich um internationale Anerkennung und Legitimation bemühten und vor allem Bündnisse und Abkommen mit sozialistischen oder sozialistisch orientierten Ländern eingingen. 1963 hat die Baath-Partei in Syrien die Macht übernommen und 1970 hat der damalige Präsident, Assads Vater, seine Mitstreiter in der Partei ausgeschaltet und sich selbst als Präsident wählen lassen. Um sich zu behaupten und Anerkennung der sozialistischen Länder zu erhalten, hat er Anfang der 1970er viele Schüler zum Studium in die sozialistischen Länder geschickt. Ich wurde mit 20 Jahren zum Studium der Wirtschaftswissenschaften an die Humboldt-Universität nach Berlin delegiert und studierte dort in der Zeit von 1971 bis Ende 1976. Gerne hätte ich stattdessen Naturwissenschaften studiert, aber wir waren sehr arm und dies war ein vom Staat finanziertes Stipendium. Meine Eltern haben auch einen kleinen Betrag bekommen. Ein Teil wurde in der DDR ausgezahlt und ein Teil in Syrien.
Meine erste Station in der DDR war Leipzig im September 1971. Da kamen Ausländer aus der ganzen Welt hin, um am Herder-Institut Deutsch zu lernen. Es war für mich ein großer Sprung vom Leben im Dorf in eine große Stadt in Europa. Ich komme aus einer religiösen Familie, und es ist üblich, die Schuhe immer vor dem Zimmer ausziehen. Man darf kein Zimmer mit Schuhen betreten. Als ich das erste Mal in die DDR geflogen bin, war der Flug mit einer Übernachtung in Prag. Dort im Hotel habe ich meine Schuhe aus Gewohnheit vor dem Zimmer ausgezogen. Sicherlich dachte der Portier, sie sind zum Putzen dort abgestellt worden. Am Abend bekamen wir ein Abendessen und dazu ein Pilsner Bier. Ich hatte zuvor noch nie Alkohol getrunken und habe nur daran genippt. Es war sehr bitter. Ein anderer Student, der aus Damaskus kam, hat mein Bier dann getrunken. Nach sechs, sieben Monaten, hatte ich es dann geschafft, ein ganzes Glas Bier zu trinken.
Mein erster Eindruck in Deutschland war im Winter die Kälte und der Schnee. Wir wohnten in einem Wohnheim und der Weg zum Sprachinstitut führte durch einen Park. Da habe ich zum ersten Mal einen weißen Teppich aus Schnee gesehen. Ein weiterer Eindruck entstand vor dem Leipziger Hauptbahnhof. Ich schaute auf die Straße, auf der sehr viele Polizisten durch die Stadt fuhren und Autos, die nicht hupten. „Viele Polizisten hier im Lande und Autos ohne Hupen“, das schrieb ich sogar meinem Cousin in Syrien, der daraufhin antwortete, dass er auch gerne in so einem Land leben würde, wo die Autos keine Hupen haben. Erst später wurde mir klar, dass es gar nicht so viele Polizisten gab, wie ich anfangs dachte. Ich hielt nur alle Motorradfahrer für Polizisten, weil in Syrien niemand sonst einen Helm auf dem Motorrad trägt.
In Leipzig am Herder-Institut haben wir Deutsch gelernt, und das war sehr gut. Ich konnte zuvor kein Wort Deutsch. Unsere Lehrer dort haben sich aber viel Mühe gegeben; sie sprachen weder Englisch noch Arabisch. Da musste jeder richtig Deutsch lernen.
Unsere erste Deutschlehrerin hieß Frau Zuch und einer der Kommilitonen aus dem Sudan tat sich schwer, Deutsch zu lernen. Sie nahm ihn deshalb mehr dran und ärgerte sich bis zum Schluss, dass er ihren Namen nicht richtig aussprechen konnte. Er redete sie jedes Mal mit Frau "Zug" an. Die nächste Lehrerin, Frau Müller, war eine junge Frau. Einmal hatte sie uns zu Kaffee und Kuchen zu sich nach Hause eingeladen. Anfangs wollte sich unser Freund aus der Dominikanischen Republik im Namen der Gruppe für die Einladung bedanken und begann mit den Worten: „Meine Frauen und Herren.“ Herr Müller unterbrach ihn und sagte: „Es mögen alle in der Gruppe Ihre Frauen sein, aber diese“, und er zeigte dabei auf Frau Müller, „ist meine Frau!“. In Leipzig waren hauptsächlich Ausländer aus allen Ländern, sowohl in den Sprachgruppen als auch im Studentenwohnheim: aus Kolumbien, aus der Mongolei, Vietnam, zwei aus der Sowjetunion, von überall her. Wir konnten uns untereinander mit unserem spärlichen Deutsch besser verständigen als mit den Deutschen.
Zum Studium bin ich dann nach Berlin an die Humboldt Universität gekommen. Berlin war im Grunde wie Leipzig, beides große Städte, dagegen war Damaskus ein Dorf.
Am Anfang habe ich an der Universität fast nichts von den Vorlesungen verstanden. Wir waren sieben Ausländer von 280 Studenten in einem Studienjahr. Die Dozenten konnten keine Rücksicht auf uns nehmen. Mit der Zeit hatte ich Freunde gefunden, die diese Vorlesungen für mich mit Durchschlagpapier mitgeschrieben haben. Ich erinnere mich, dass ich im ersten Seminar bei einer Blitzkontrolle nichts über die "Grundsätze in der Landwirtschaft" von Lenin schreiben konnte, weil ich gar nicht wusste, wer Lenin war. Im ersten Studienjahr habe ich auf kuriose Weise meine jetzige Frau bei einer Studentenparty in der Disco im Keller unseres Studentenwohnheims kennengelernt. Ich habe mit ihr getanzt und ihr aus Versehen Cola über ihr Kleid geschüttet. In der Woche darauf habe ich sie dort wiedergesehen und wir kamen ins Gespräch über unsere Studienfächer. Sie studierte Lebensmitteltechnologie. Da sie Schwierigkeiten in Mathematik hatte, bot ich ihr Hilfe an und dabei sind wir uns dann näher gekommen.
Im Studentenwohnheim wohnte ich in einem Zimmer im Hans-Loch-Viertel mit einem sehr netten und intelligenten deutschen Studenten zusammen. Von ihm habe ich viel gelernt und mein Deutsch hat sich sehr verbessert. Er hat mich sogar in den Weihnachtsferien für drei Tage in sein Dorf in Mecklenburg mitgenommen. Dort habe ich zum ersten Mal eine Toilette im Hof mit einem Herz in der Tür gesehen. Ich wusste nicht, wie ich dieses sogenannte Plumpsklo benutzen sollte. Darauf steigen? Darauf sitzen? Ich wusste es nicht.
Seit Errichtung der Berliner Mauer 1961 wurde der Kontakt zwischen DDR-Bürgern und dem kapitalistischen Ausland, zu dem mein Land zählte, verboten. So wurde meinem Zimmerkollegen und seiner Frau am Ende des Studiums der Kontakt zu mir verboten. Beide waren von den DDR-Behörden darauf vorbereitet und auserwählt, leitende Funktionen im Ausland zu übernehmen – sie in einem Außenhandelsbetrieb und er im Finanzministerium. Er war später eine hochrangige Person und hat die DDR in Wirtschaftsorganisationen in Genf vertreten. Und so kam es, dass sie mich am Ende des Studiums zu einem Essen in einem Restaurant eingeladen und mir mitgeteilt haben, dass sie mich von nun an weder anrufen noch mir schreiben dürfen. Sogar dieses letzte Treffen, hatten sie bereits gemeldet. Und so war dann Funkstille zwischen uns. Als nach der Wende eine Delegation aus dem deutschen Finanzministerium nach Syrien kam und ich von unserem Ministerium zum Dolmetschen beauftragt wurde, habe ich durch Zufall von einem Delegationsmitglied erfahren, dass mein Studienkommilitone auch im Finanzministerium in Berlin arbeitet. Wir nahmen den Kontakt wieder auf und sie besuchten uns in Damaskus. Leider sind die beiden nun verstorben.
Jede Wohnung im Studentenwohnheim hatte drei Zimmer. Wir waren etwa 10 Studenten in einer Wohnung, deutsche und ausländische gemischt, mit einer gemeinsamen Küche. Ein Student aus Kuba war immer knapp bei Kasse. Er hat den Sozialismus und sogar den Kommunismus in unserer Küche praktiziert. Immer, wenn er kein Geld mehr hatte, hat er sich einfach an den Lebensmitteln der anderen bedient. Er hat es nie abgestritten und darauf angesprochen, sagte er: „Verdammt ...ich hatte Hunger!“ Uns, die Ausländer, hat es weniger gestört als unsere deutschen Freunde.
Das Essen war für mich eine Umstellung. Hier gab es zu jedem Essen gekochte Kartoffeln. Wir essen in Syrien sehr viel Brot. Ich habe zum Essen immer Brot mitgenommen, was die Köchin in der Mensa erstaunt hat. Hingegen war ich erstaunt, dass man hier immer Butter auf das Brot schmiert, egal womit danach belegt oder beschmiert wird. Das gab es bei uns nicht. Butter gab es höchstens zum Frühstück mit Marmelade aber nicht zum Abendbrot.
Meine Frau und ich haben nach einer vierjährigen Beziehung beschlossen zu heiraten. Es war aber schwieriger als gedacht. In der DDR war vieles verboten. Für alles gab es Vorschriften. Als die Fakultätsleitung vor Ende unseres Studiums mitbekam, dass meine Frau einen Antrag auf Heirat gestellt hatte, wurde sie zu einem Gespräch bestellt und sehr scharf kritisiert. Sie musste sich anhören, dass viel in sie investiert wurde und sie nun das Land verlassen wolle, dass sie in ein Land gehen will „wo nur Kamele sind und keine Kartoffeln“. Ihr wurde drei Monate vor Abgabe ihrer Diplomarbeit angedroht, exmatrikuliert zu werden, wenn sie den Antrag nicht zurückzieht. Sie nahm ihn zurück und unmittelbar nach ihrer Diplomverteidigung, haben wir den Antrag wieder gestellt. Sie hat zu dem Zeitpunkt schon in einer ihr zugewiesenen Stelle in Rathenow in einer Haferflockenmühle gearbeitet. Sie wurde dort zum Standesamt bestellt und musste sich wieder anhören, dass es so etwas nicht gäbe und sie ihr Geld nicht zum Fenster rausschmeißen würden. Der Antrag würde abgelehnt werden, wurde ihr mitgeteilt. Sie entgegnete, dass sie dann auf der Stelle einen neuen Antrag stellen würde. Mit dem Heiratsantrag war automatisch auch eine Ausreise für sie verbunden, weil ich nicht in der DDR bleiben durfte, da ich mich verpflichtet hatte, für die doppelte Zeit meines Studiums für den Staat in Syrien zu arbeiten. Ich hatte damals extra lange an meiner Diplomarbeit geschrieben, damit wir nicht getrennt werden. Ende 1976 musste ich aber zurück nach Syrien. Meine Frau hat hier weitergearbeitet und ein Dreivierteljahr später wurde ihr Antrag schließlich genehmigt. Im September 1977 haben wir dann in Rathenow im kleinen Kreis, mit ihren Eltern und ein paar Freunden, geheiratet. Unsere beiden Familien waren gegen unsere Beziehung und Heirat, aber wir haben uns durchgesetzt. Zwischenzeitlich wurde meine Frau schwanger und wir haben noch bis nach der Geburt im Mai 1978 gewartet, bis wir Ende Juni endgültig nach Syrien ausgereist sind. Der erste Eindruck meiner Frau in Syrien war die Hitze - wie damals für mich die Kälte in Deutschland. Es war ein heißer Sommer und Temperaturen über 40 Grad. Sie lief mit einem Thermometer durch alle Zimmer und hielt sich dort auf, wo es am kühlsten war. Wir bekamen zwei Zimmer im Haus meiner Eltern, ein Schlaf- und ein Wohnzimmer. Dort haben wir vier Jahre mit meinem Bruder, seiner Frau und meiner jüngsten Schwester gelebt. Und obwohl meine Eltern anfänglich gegen unsere Heirat waren, haben sie meine Frau sehr gut aufgenommen und behandelt wie ihre eigene Tochter. Sie haben immer darauf geachtet, dass es ihr gutging. Sie hat in einem achtmonatigen Sprachkurs Arabisch gelernt und die folgenden zwei Jahre bei einem Übersetzer gearbeitet. Später hat sie elf Jahre in einem Futtermittellabor bei Damaskus gearbeitet, das die BRD dort finanziert und eingerichtet hatte. Nach der Wende hat sie sich dann bei der deutschen Botschaft in Damaskus beworben und als Ortskraft gearbeitet. Ich habe nach meiner Ankunft in Syrien meine Verpflichtung im Finanzministerium abgearbeitet und blieb sogar drei Jahre länger. Danach habe ich mich in Damaskus als vereidigter Übersetzer selbständig gemacht. Seitdem ging es uns eigentlich ganz gut in Syrien. Vorher, als ich noch beim Staat tätig war, waren wir immer sehr knapp bei Kasse. Wir hatten aber inzwischen eine eigene Wohnung.
In Damaskus gab es eine Gemeinschaft von Syrern, die mit deutschen Frauen verheiratet waren. Wir kannten uns alle untereinander. Die DDR betrieb dort auch ein Kulturzentrum für ihre Bürger. Da gab es viele gute Veranstaltungen und auch Sprachkurse für die Kinder. Zuhause haben wir Deutsch gesprochen. Im Sommer haben unsere Töchter immer zwei bis drei Monate bei meinen Schwiegereltern in Deutschland verbracht. Sie haben bis zum Abitur arabische Schulen besucht, und beide haben danach Englische Literatur und Anglistik in Damaskus studiert. Damit haben sie drei Sprachen perfekt gesprochen und hatten somit gute Jobs in Damaskus.
Als junger Erwachsener wollte ich Arzt werden. Mir fehlten nur ein paar Punkte für das Medizinstudium. Jedoch soll man nie bereuen, was gewesen ist. Durch mein Studium in Deutschland habe ich meine Frau kennengelernt. Wir haben zwei Töchter und vier Enkelkinder, das ist alles ein Gewinn.
Am Abend des Mauerfalls, es war ein Donnerstag, haben wir uns in Syrien im Kulturzentrum der DDR einen Film angesehen, daher haben wir erst am nächsten Tag aus den Nachrichten davon erfahren. Wir haben uns sehr gefreut, dass es so gekommen ist, vor allem auf friedlichem Wege. Den Leuten ging es ja eigentlich nur um Freiheit. Aus diesem Anlass hatten wir am Freitag zwei andere Familien zu uns eingeladen, um uns über das Ereignis auszutauschen. Natürlich haben wir uns gefreut für die Menschen, dass sie frei waren und Deutschland wieder eins war. Das war ja der Wunsch der Menschen, sowohl im Westen als auch im Osten.
Wir haben 34 Jahre in Syrien und 3 Jahre im Libanon gelebt. 2012 wurde die deutsche Botschaft in Damaskus auf Grund des Krieges geschlossen. Ein Teil der Tätigkeiten wurde in die deutsche Botschaft Beirut einschließlich der Arbeit meiner Frau verlegt. Daraufhin lebten wir bis Ende 2015 in Beirut, Libanon. Wir hatten die Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende geht, und wir zurück nach Syrien in unsere Wohnung könnten. Aber es eskalierte mehr und mehr, sodass wir Anfang 2016 nach Deutschland übersiedelten. Meine Mutter und meine Geschwister lebten weiter in Syrien. Mein Bruder wurde vom Assad-Regime erschossen. Als unser Geburtsort vom Militär belagert war, hat er den Menschen geholfen zu überleben. Er wurde von Scharfschützen aus der Entfernung erschossen. Eine meiner Schwestern ist mit ihrer Familie nach Ägypten geflohen.
Ich hatte 2004 bereits die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und ein Jahr später auch erhalten. Ich konnte nachweisen, dass wir gut situiert waren und wir für uns sorgen können, eine Bindung zu Deutschland besteht und ich gut Deutsch sprechen kann. Meine Frau und ich konnten daher problemlos zusammen nach Deutschland zurückkehren. Ursprünglich wollten meine Frau und ich nach der Rente gerne im Winter in Damaskus und im Sommer in Deutschland leben. Durch den Krieg ist das nicht mehr möglich. Ich war schon 65 als wir zurückkehrten und hätte gerne weiter als Übersetzer gearbeitet, aber ich hätte in Deutschland noch einmal die staatliche Prüfung als Dolmetscher oder Übersetzer machen müssen. Ich wollte mit 65 Jahren nicht noch einmal von vorne anfangen. Vereinzelt helfe ich Geflüchteten bei Übersetzungen ihrer amtlichen Schreiben.
Freunde haben wir hier nicht so viele. Das ist auch eine Sache, die mich hier wirklich einsam fühlen lässt. Unser Zusammenleben wie in Syrien ist nicht mehr da. Ich bin allein hier mit meiner Frau. Ehrenamtlich engagiere ich mich in einem Sprachcafé für Geflüchtete. Manchmal gehe ich auch zu Veranstaltungen bei BENN Mariendorf. Wir veranstalten auch Kochabende mit vielen Gerichten aus verschiedenen Ländern.
Mir fehlt aber der Austausch besonders mit alten Freunden und Familienangehörigen. Man tauscht ja die Erinnerungen aus. Mit meiner Familie würde ich gerne zusammensitzen, erzählen und scherzen. Dennoch fühle ich mich hier wohl und sicher. Ein Land ist dir eine Heimat, wenn es dir etwas zu Essen und zu Trinken gibt, dir ein Zuhause bietet und Meinungsfreiheit. Ich empfinde mich als Teil der Gesellschaft. Ich habe keine rassistischen Erfahrungen gemacht. Manche andere jedoch schon. Ich habe hier eine Nichte, die hat so etwas erlebt. Sie wurde in der Straßenbahn angegriffen und mit Bier überschüttet.
Ein perfekter Tag ist für mich, wenn ich in meinem kleinen Garten bin. Dort baue ich Tomaten, Zucchini und Gurken an. Vor vier Jahren habe ich auch drei Apfelbäume gepflanzt, die schon tragen. Dort zu sitzen, zu beobachten, wie die Natur im Frühling langsam wächst, wie aus einem Stock, einem blanken Holzstock, so viel Grünes kommt und Blüten, finde ich wunderschön. Es ist ein schöner Tag für mich, wenn ich ein wenig im Garten arbeite und sehe, wie schön die Natur ist.
Ich bin in Deutschland angekommen und ich habe mich an das Leben gewöhnt. Die Pünktlichkeit, die Sauberkeit, das finde ich gut. Typisch deutsch ist für mich die Bürokratie und die Butter auf dem Brot.
Gerechtigkeit ist mir sehr wichtig sowohl zwischen Ländern als auch zwischen Menschen. Das, was mich am traurigsten macht, ist, wenn jemand ungerecht behandelt wird oder ein Land zu Unrecht angegriffen wird. In dieser Zeit herrscht sehr viel Krieg, sehr viele Glaubenskriege. Die Kluft zwischen Armut und Reichtum ist auch sehr groß. Glück bedeutet für mich, meine Familie um mich herum zu haben, und dass alle gesund sind.
Zum Schluss möchte ich sagen: Ich hatte zwei Heimaten, Syrien und die DDR – beide sind verloren gegangen. Die DDR hat sich friedlich mit der BRD wiedervereinigt und Syrien wurde durch den Krieg zerstört. Der arabische Frühling in Syrien begann 2011 friedlich und entwickelte sich zum Bürgerkrieg. Die Menschen in Syrien hofften auf besseres Leben und Demokratie. Aber es war nicht wie in der DDR. Assad hat eine friedliche Revolution nicht zugelassen. Ich werde nicht nach Syrien zurückgehen, bevor dieses Regime weg ist und bevor eine wirklich friedliche politische Lösung gefunden wird. Solange Assad an der Macht ist, gibt es keine Lösung. Die Lage in Syrien ist gerade sehr kompliziert. Es gibt viele Interessen, viele Mächte, die das Land an sich reißen wollen. Ich würde so gerne in Syrien meine Familie und die Orte, an denen ich aufgewachsen bin, besuchen. Wenn ich früher durch die Gassen in meinem Geburtsort gelaufen bin, habe ich mir immer gesagt: „Ich werde diese Orte nicht überleben, sie werden immer dastehen.“ Durch den Krieg habe ich sie nun doch überlebt. Vieles ist zerstört, das ist so traurig. Ich habe aber die Hoffnung nicht aufgegeben, Syrien eines Tages wiedersehen zu können.