Ich heiße Miriam, bin in Argentinien geboren und in Buenos Aires aufgewachsen. Dort habe ich im Stadtzentrum die Kita, die Grundschule und das Gymnasium besucht. Danach habe ich eine dreijährige Ausbildung als Reiseleiterin gemacht, weil ich immer reisen und viele Sprachen und Kulturen kennenlernen wollte.
Anfang 1983, im Alter von 23 Jahren, bin ich mit meinem Partner und einem Rucksack nach Europa verreist. Vorher bin ich schon in Lateinamerika herumgereist. Zuerst waren wir in Italien, Spanien und Frankreich und im August 85 sind wir nach Deutschland gekommen. Dort waren wir ein paar Tage in West-Berlin zu Besuch und ich fand das total interessant. In Italien, Spanien und Frankreich ist eine lateinische Mentalität und Kultur, die für mich nicht besonders aufregend war. Es ist dort schön, aber mich hat an Deutschland die ganz andere Sprache und Kultur interessiert. Ein Jahr später sind wir von Paris, wo zwar alles toll, aber klein und eng war, nach Berlin gezogen. Ich fand es dort super angenehm, alles war so großzügig, die Altbauwohnungen, die Seen und Wälder und die Möglichkeit, überall mit dem Fahrrad hin zu fahren. Es dauerte ungefähr 3 Jahre, bis ich die Sprache soweit erlernt hatte, um mich wohlzufühlen und auf Deutsch lesen, Radio hören und Filme sehen konnte. Vorher habe ich das auf Englisch, französisch oder spanisch gemacht.
Mein damaliger Partner wohnte auch in Berlin. Das Leben in Berlin hat mich im Prinzip total fasziniert. Buenos Aires ist nur halb so groß, hat aber 10 Millionen Einwohner. Viele Westdeutsche haben mich immer gefragt, was machst du hier, fühlst du dich wohl? Wenn ich mit ja antwortete, kam dann aber, das ich dort doch nicht rauskäme. Ich erwiderte, dass man in Buenos Aires auch immer zweieinhalb bis drei Stunde fahren muss, um überhaupt aufs Land zu kommen. Und meine Wohnung war ja auch nicht direkt an der Mauer, deshalb hat mich diese Situation überhaupt nicht gestört. Es ist ja eine Großstadt. Die Altbauwohnungen waren riesig. Eine gleichwertige Wohnung in Paris zu bezahlen ist überhaupt nicht möglich. Bis 2018 wohnte ich immer in Charlottenburg und nur kurz in einer WG in Wilmersdorf in der Nähe vom Ku’damm. In Paris hatten wir immer kleinere Wohnungen und in Rom haben wir nie was gefunden, unmöglich. Interessant waren auch die kulturellen Möglichkeiten in den verschiedenen Sprachen und die Museen. Es gab auch viele Aktivitäten umsonst, mehr als heute, auch für die Künstler. Auch die Natur in der Stadt war für mich faszinierend, das gab es so nicht in Madrid, Rom und Paris.
Ich hatte von Anfang an versucht, nicht in eine Latino-Clique rein zu kommen, um die Sprache und Kultur besser aufzunehmen. Das konnte ich später machen, aber nicht gleich am Anfang.
Die größte Herausforderung war es, die Sprache zu lernen und bei Schwierigkeiten nicht gleich zu verzweifeln und in eine Weltuntergangsstimmung zu verfallen. Der erste Erfolg war dann, als ich ein Buch lesen konnte. Zeitung lesen kam dann später. Also gut, es kommt darauf an, welche Zeitung man liest. In der Stadt zu wohnen war für mich als Stadtmensch kein Problem. Berlin war zuerst nur eine Etappe mehr auf meiner Europa- Reise. Ich habe mich aber dann als Frau in dieser Gesellschaft so wohl gefühlt. Diese Freiheit, überall mit dem Fahrrad zu fahren. Das hatte ich weder in Buenos Aires, Paris, London und Madrid gehabt - die Orte, wo ich eventuell geblieben wäre. Auch mag ich die Sicherheit und Unabhängigkeit von Frauen. Die anderen Gesellschaften sind oder waren damals noch mehr Macho und familienorientiert. Ab einem bestimmten Alter gehörst du dort nach Hause zu deinen Kindern oder in das familiäre Unternehmen und bist nicht alleine unterwegs. Das war so in meiner Generation. Mag sein, dass es danach in den Städten ein bisschen anders wurde.
Um Deutsch zu lernen war es wichtig, parallel zu den Volkshochschulkursen, die ich 3
Semester lang belegt hatte, mit Deutschen in Kontakt zu kommen. Ich habe sofort gearbeitet und musste dadurch irgendwie deutsch sprechen. So war es auch in Italien, wo es für mich wegen der Sprachverwandtschaft einfacher war als in Deutschland. Um eine neue Sprache zu lernen ist es wichtig, nicht mit seiner Muttersprache in einer Sprachblase zu bleiben. Die Volkshochschulkurse fand ich immer gut, da das finanziell in Ordnung war. Sprachschulen waren immer teurer und vielleicht auch besser, aber wichtig ist auch, ob man mit den Lehrern Glück hat. Da ich in Vollzeit gearbeitet hatte, besuchte ich die Abendkurse der Volkshochschule.
Ich fühle mich in Berlin schon zu Hause, obwohl ich hier aber nicht geboren bin. Argentinien und Deutschland sind beides Orte, wo ich mich zu Hause fühle und gleichzeitig bin ich nicht hundert prozentig irgendwo zu Hause. In Argentinien denke ich, warum machen die das so und so und überlegen nicht und in Deutschland fehlt mir manchmal so die gewisse Leichtigkeit. Leute machen sich wegen nichts ein Problem und sind wegen Kleinigkeiten sofort verunsichert. Wenn ich Berlin jedoch mit einem Dorf in Deutschland vergleiche, fühle ich mich natürlich hier eher zu Hause. Auch wenn es im Dorf schöner ist und ich mit den Leuten klarkomme, weiß ich nicht, was die hinter mein Rücken besprechen.
Als mein Partner dann ein Haus in Sachsen geerbt hatte, habe ich gedacht, wenn ich nicht mehr arbeite, dann könnte ich mal sehen, wie das Leben in einem Dorf ist, in einem großen Haus und großem Garten ist. Das hat mich gereizt. Ich habe auch Zugang zu den Menschen bekommen und bin im Dorf mehr oder weniger integriert, doch der Unterschied ist schon extrem groß, mehr wie zwischen den Großstädten Buenos Aires und Berlin. Wenn ich in einem Dorf in Argentinien leben müsste, würde ich das gleiche empfinden. Mir fehlt im Dorf auf jeden Fall ein bisschen die kulturelle Vielfalt und die kulturellen Angebote, das tut mir am meisten weh. Dort fühle ich mich schon irgendwie als ein Teil der Gemeinschaft, weil ich vieles mitmache. Wenn aber über bestimmte Sachen geredet wird, dann merke ich, ich lebe noch in einer ganz anderen Welt. Ich denke dann, hören die denn keine Nachrichten? Und man muss ganz, ganz vorsichtig sein, was man bespricht oder wie man bestimmte Sachen benennt.
In Berlin hatte ich nie das Problem. Vielleicht auch, weil ich von Anfang an in einer sehr multikulturellen Umgebung unterwegs war und nicht nur in einer bestimmten Gruppe. Nie fühlte ich mich bedrängt oder weggewünscht. Äußeres mag eine besonders große Rolle spielen. Andere, z.B. Schwarzafrikaner, die zum Teil gar nicht mehr in Berlin wohnen, hatten vielleicht mehr Probleme, da man ihnen ihre Herkunft ansah. Und das erste, was die Leute oft fragen ist, wo kommst du her?
Was in Deutschland auch ganz schlechtgemacht ist, ist die Eingliederung in die deutsche Kultur, zum Beispiel in türkischen Familien, wo immer noch schlecht Deutsch geredet wird. Wieso haben sie nie den Zugang bekommen? Oder wieso können die Leute, die hier 5,6 oder 7 Jahre irgendwo in einer Siedlung eingesperrt sind, nicht arbeiten? Da ist die Regierung schuld. Auch in den 80ern gab es im Vergleich zu heute in West-Berlin Diskriminierung. Ich kenne einige, die mir davon erzählt hatten.
Meine Kritik an der Deutschen Gesellschaft ist, dass sie nie eine deutsche Kultur für alle gemacht hat, im Sinne von „wir müssen diesen Leuten den Zugang schaffen, um aus einer Ghetto ähnlichen Situation raus zu kommen.“ Sie sollten nicht dieses Gefühl bekommen, dass sie ihre Wurzeln verlieren, sondern dass sie eine Bereicherung sind. Es gibt zwar Projekte und Organisationen wie Eure, aber es passiert nicht auf der großen Ebene wie z.B. in Kindergärten oder Schulen.
Als Frau fühle ich mich immer noch sicher, auch in den tollen öffentlichen Berliner Verkehrsmitteln, obwohl ich am liebsten mit dem Fahrrad unterwegs bin. Auf dem Land würde ich abends nicht Fahrrad fahren wollen, weil es dunkel ist wie die Nacht - da fühle ich mich verunsichert.
Durch das Reisen hat sich mein Interesse an Politik verändert. Ich hatte schon in Argentinien ein gewisses Interesse an Politik entwickelt. In den Jahren davor hatte ich keinen so großen Einblick was auf der Welt passiert. Man war mit der ganzen Problematik in der eigenen Welt so beschäftigt, dass der Rest nicht so schwer wiegt. Später habe ich mich natürlich mit der Politik in den Ländern, wo ich mich aufgehalten habe, beschäftigt, und peu à peu darüber hinaus. Jetzt habe ich einen größeren Einblick und informiere mich immer wieder. Ich lese nicht täglich die Zeitung, sondern höre gern Deutschlandfunk und ab und zu abonniere ich Gratis-Abos.
Typisch deutsch ist für mich z.B. Bier oder in einer Schlange zu stehen, um eine Currywurst zu essen. Oder das viele meckern, meckern, meckern. Immer nur das Negative. Es gibt wenige Leute die auf das Positive schauen. Und auch das allgemeine Gefühl von Sicherheit. Das ist eine Versicherungswelt. Alles muss versichert sein, das Haus, das Auto, das Sterben oder das neue E-Bike usw…
Typisch für Berlin war früher die Insellage mit den Grenzkontrollen und die finanzielle Großzügigkeit der Bundesrepublik, damit alle hier glücklich leben konnten. Heute ist es natürlich anders, die Stadt ist rauer geworden, enger und lauter.
Mein Traum ist es, eine Balance zwischen meinem Großstadtleben und meinem Landleben zu finden und es in Einklang zu bekommen. Das ist jetzt meine Herausforderung, mein großes Ziel. Sonst müsste ich wahrscheinlich auf eine abwechselnde Zeit verzichten und planen, dass ich im Sommer hier und im Winter dort bin oder umgekehrt.
An Argentinien vermisse ich am meisten bestimmte kulinarische Sachen, welche es hier nicht gibt. Diese versuche ich ab und zu selber zu machen, aber es ist nicht ganz das gleiche. Ich vermisse auch eine bestimmte Kaffeehauskultur. Hier gibt es genug Cafés und andere Möglichkeiten, aber sie sind mehr schickimicki und exotisch und die älteren anderen verschwinden. Das passiert in Buenos Aires leider auch, aber dort gibt es immer noch viele alte Cafés.
Manchmal vermisse ich auch bestimmte spontane Aktionen. Jetzt natürlich noch mehr, weil ich weniger in der Stadt bin. Auch meine alten Freunde sind fast alle weg. Ich habe jetzt nur noch eine Freundin in Buenos Aires, die übriggeblieben ist. Alle anderen sind verteilt in Europa, Amerika, oder man entwickelt sich und hat dann nicht mehr so viel gemeinsam.+
Wenn gemeckert wird, würde ich mich gerne über wichtige konkrete Sachen beschweren. Dass die Preise ständig wachsen, weil die Inflation bei 100% ist und das Geld nicht mehr für die Miete reicht, kann ich verstehen. Aber die meisten Leute hier beschweren sich über Sachen, wo ich denke, wir leben hier noch im Luxus. Derjenige, der keinen Job hat, bekommt immer noch Unterstützung. Das gibt es in der dritten Welt nicht. Wenn du dort keinen Job hast, hast du nichts. Auch das Gesundheitssystem hier gibt es dort nicht überall.